89% der Pflegenden erleben verbale Aggression
Teil 1 einer Zusammenfassung des Vortrag auf der 4. Fachtagung Pflege in der Psychiatrie im Kloster Irsee.
Viele psychiatrische Kliniken haben in den letzen Jahren Schulungen zur Deeskalation eingeführt und schulen ihr Mitarbeiter seither regelmäßig im Umgang mit Aggression und Gewalt.
Hier soll ein durchaus kritischer Blick auf diese „Trainingskultur“ geworfen werden. Denn als psychiatrisch Pflegende haben wir es natürlich mit Aggression und Gewalt von Patienten zu tun. Immerhin 89% aller Pflegenden erlebten im Laufe eines Jahres nicht-körperliche Formen von Aggression (Nijman et al. 2005). Aber müssen wir uns deshalb als Experten zur Überwältigung von „Gewalttätern“ ausbilden lassen?
Als psychiatrisch Pflegende sind wir Experten für das Erkennen individueller Bedürfnisse, wir sind Experten für die Einschätzung potentieller Risiken und wir sind auch Experten für den Umgang mit inneren und zwischenmenschlichen Konflikten. Aber unsere therapeutische Arbeit hat auch seine Grenzen, und dann müssen wir auf die staatliche Ordnungsmacht, die Polizei, zurückgreifen. Diese Grenzen sollten in einer psychiatrischen Klinik offen diskutiert werden.
Psychiatrische Pflege ist mehr als Aggressionshandhabung
Bei der Entwicklung von PAIR – dem Training zur Aggressionshandhabung sind wir davon ausgegangen, dass es in der Psychiatrie nicht vornehmlich um Aggression und Gewalt geht, sondern um die individuellen Bedürfnisse von Menschen, die häufig unsicher, verzweifelt und frustriert sind. Die durch ihre Erkrankung vielfältige Einschränkungen in ihrem alltäglichen Leben erfahren.
Das Training wurde im Rahmen des Arbeitskreises zur Prävention von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie entwickelt. Einem Arbeitskreis, der von Tilman Steinert koordiniert wird. Mit dem Training wollen wir eine Diskussion über den „best practice“ im Umgang mit Aggression und Gewalt in der Psychiatrie fördern. Das Training basiert soweit möglich auf wissenschaftlichen Grundlagen und das Trainingsmanual soll, ähnlich wie dies auch für psychotherapeutische Techniken gefordert wird, einer wissenschaftlichen Diskussion zugeführt werden.
Ausgehend von der Theorie des geplanten Verhaltens von Fishbein und Ajzen (1975) basiert das Training auf folgenden Grundüberlegungen zu Deeskalation:
- Unsere Einstellungen beeinflussen unser Verhalten. Psychiatrisch Pflegende haben unterschiedliche Einstellungen zu Aggression von Patienten. Ein Teil sieht die Aggression als „schädigendes“ Verhalten, andere betrachten es als durchaus verständliche „funktionelle“ oder gar „normale“ Reaktion (Jansen et al. 2006). Diese Einstellungen haben Auswirkungen auf unseren Umgang mit aggressiven Patienten, darauf wie wir mit Grenzen, Regeln und Zwangsmaßnahmen umgehen.
- Stresskontrolle macht uns handlungsfähiger. Nach Grube (2003) reagieren nicht alle Pflegende mit Stress auf eine massive Gewalt von Patienten. Vor allem Pflegende, die über Erfahrung mit aggressiven Patienten verfügen, reagieren gelassener und souveräner. Dabei scheint es auch wichtig zu sein, über die eigenen Erfahrungen mit anderen zu sprechen. Je weniger Stress wir erleben, desto handlungsfähiger sind wir in aggressionsgeladenen Situationen. Für ein Training ist es daher wichtig, dass wir neben dem Erfahrungsaustausch, auch Möglichkeiten zur Stresskontrolle anbieten.
- Trainings führen zu mehr Zuversicht und Wissen. Nach einer Übersichtsarbeit von Richter und Needham (2007) gibt es keine eindeutigen Hinweise darauf, dass Deeskalationstrainings zu weniger Aggression und Gewalt in psychiatrischen Stationen führen. Sie führen aber meist zu mehr Wissen und das subjektive Sicherheitsgefühl der Teilnehmer, in aggressiven Situationen kompetent und deeskalierend handeln zu können, kann recht gut verbessert werden. Auch das macht uns handlungsfähiger (vgl. Theorie der Selbstwirksamkeit von Bandura (1977).
- Rückhalt unseres Arbeitgebers. Für unseren Umgang mit aggressiven Patienten ist es auch wichtig, welche Haltung wir in unserer Einrichtung dazu wahrnehmen. Es gibt Einrichtungen, die ihre Mitarbeiter mit ihrer Hilflosigkeit allein lassen und andere, die deutliche Signale für eine menschlichere und friedlichere Psychiatrie vermitteln. Für den Umgang mit Aggression und Gewalt in der Psychiatrie ist es wichtig, dass die ganze Einrichtung dies zu ihrem Thema macht und dass die Angst von Mitarbeitern nicht als Makel sondern als wichtiges Signal für präventive Maßnahmen verstanden wird.
Das Ziel der Reduktion von Aggression und Gewalt in der Psychiatrie kann nur von der ganzen Klinik zusammen geleistet werden. Alle müssen an einem Strang ziehen und die Klinik als Ganzes muss sich zu einer lernenden Organisation in Sachen Aggressionshandhabung entwickeln. Eine einseitige Ausrichtung auf die Schulung der Mitarbeiter, macht das Problem der Aggression zu einem individuellen Problem der Mitarbeiter. Für ein professionelles Aggressionsmanagement ist aber die ganze Einrichtung gefordert.
Literatur
Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a Unifying Theory of Behavioral Change. In: Psychological Review, Jg. 84, H. 2, S. 191–215.
Fishbein, M.; Ajzen, I. (1975). Belief, Attitude, Intention, and Behavior: An Introduction to Theory and Research. Reading: Addisson-Wesley.
Grube, M. (2003). Emotionale Reaktionen von Mitarbeitern im Umgang mit aggressiven psychiatrisch Erkrankten. In: Psychiatrische Praxis, Jg. 30, S. 187–191.
Jansen, G.J.; Dassen, T.W.N.; Burgerhof, J.G.M.; Middel, B. (2006). Psychiatric Nurses’ Attitudes Towards Inpatient Aggression: Preliminary Report of the Development of Attitude Towards Aggression Scale (ATAS). In: Aggressive Behavior, Jg. 32, H. 1, S. 44–53.
Nijman, H.; Bowers, L.; Oud, N.; Jansen, G. (2005). Psychiatric Nurses’ Experiences With Inpatient Aggression. In: Aggressive Behavior, H. 00, S. 1–11.
Richter, D.; Needham, I. (2007). Effekte von mitarbeiterbezogenen Trainingsprogrammen zum Aggressionsmanagement in Einrichtungen der Psychiatrie und Behindertenhilfe – Systematische Literaturübersicht. In: Psychiatrische Praxis, Jg. 34, H. 1, S. 7–14.
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag im Rahmen der 4. Fachtagung Pflege in der Psychiatrie, den ich am 26. Oktober 2008 im Kloster Irsee gehalten haben.