Wer leitet heute die Gruppe?

Zum elften Mal fand diese Woche im Bildungswerk Irsee die Fachtagung für Pflege suchtkranker Menschen statt. Ein Programm gibt es hier. Die wieder mal gut besucht Tagung stand unter dem Motto „Will – Sucht – Weg“. Am Dienstag führte ich dort, zusammen mit meinem Kollegen Wolfgang Herb, einen Workshop zum Thema Gruppen leiten durch. In einem auch für uns spannenden Workshop wurde deutlich, wie anstrengend die Gruppenmoderation für Mitarbeiter in der Sucht sein kann. Manche können kaum schlafen, wenn sie wissen, dass sie am nächsten Tag die Gruppe leiten sollen. Dabei leiden die Mitarbeiter oft an den eigenen, hohen Ansprüchen. Sie wollen eine „gute Gruppe“ und hoffen, dass „ihre Gruppe“ von den Patienten hilfreich erlebt wird und dass sie Spaß macht. Wenn sie die Gruppe „machen“ sind sie auch dafür verantwortlich, wenn es nicht so läuft, wie sie wollen.

Meiner Meinung nach wird dabei übersehen, dass eine Gruppe immer eine Gemeinschaftsaktivität ist und daher eine „gute Gruppe“ nur im gemeinsamen miteinander entstehen und nur gemeinsam definiert werden kann. Eine „Gruppe“ läuft nicht immer gleich ab. Manchmal sind Gruppendiskussionen sehr anstrengend, und trotzdem gut. Manchmal läuft alles „wie am Schnürchen“ und war trotzdem nicht. Leider ist es auch nicht immer ganz einfach, zu entscheiden ob es eine „gute Gruppe“ war. Es kommt schließlich darauf an, was sich die Gruppenmitglieder von der Gruppe versprachen. Wenn ein Patient möglichst seine Ruhe haben möchte, dann war eine Gruppe in der er nichts sagen und überlegen musste, für ihn gut. Wenn ein anderer Patient sein Problem ansprechen wollte und nicht dazu kam, dann war die Gruppe für ihn vielleicht nicht so gut.

Leider fällt mir bei solchen Veranstaltungen immer wieder auf, dass den Mitarbeiter auf den Suchtstationen die Aufgabe der Gruppenleitung meist ohne Vorbereitung übertragen wird. Sie erhalten keine Schulungen, oft auch keine Einführungen und sollen einfach so Gesprächsgruppen leiten können. Dies funktioniert dann meist nach dem Motto: „Schau einfach zu wie andere das machen!“ Außerdem sind die Konzepte der Gruppen oft nicht so transparent und eindeutig, dass die Mitarbeiter die Gruppenaktivität eindeutig darauf ausrichten können. Es gibt viele Unsicherheiten und nicht zu Ende gedachte Konzepte. Aber wenn ich schon nicht genau weiss wo ich hin will, wie will ich dann wissen ob ich angekommen bin.

Wie die Jahre zuvor erlebte ich auf der Tagung jedoch wieder hoch motivierte Teilnehmer, denen ihre Arbeit Spaß macht und die sich in den Workshops, Vorträgen und Diskussionen unter Kollegen wieder Stärkung und Anregung für ihre Arbeit holen wollten. So waren auch die Rückmeldungen zu unserem Workshop wieder sehr positiv. Wir konnten wieder einigen Mut machen Gruppen zu leiten. Das war unser Ziel.

Aufmerksam zuhören

by Tony Blay

Vor kurzem bin ich auf eine Forschungsarbeit von Lynda R. Matthews gestoßen. Sie ist Senior Lecturer an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität von Sydney (Australien) und berichtet hier über ihre Forschung zur hilfreichen Wirkung von Nachbesprechungen traumatischer Vorfälle für Pflegende in psychiatrischen Einrichtungen. Die von ihr befragten Pflegekräfte hatten einen gewaltsamen Patientenübergriff oder andere Traumatisierungen in ihrer Arbeit erlebt. 88% der nach dem Vorfall befragten Mitarbeiter klagten über emotionale Belastungen infolge der Traumatisierung. Langfristig können diese emotionale Belastung zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) führen.

Wird nun den Mitarbeitern das Angebot gemacht, über diese belastenden Ereignisse zu sprechen, vermindert das, laut Matthews, die emotionale Belastung und schützt somit vor der Entwicklung einer PTBS. Es macht also durchaus Sinn, den betroffenen Mitarbeitern die Möglichkeit zu geben, das Erlebte wertfrei und unterstützend mit jemandem zu besprechen. Die Untersuchung von Matthews reiht sich damit in eine Reihe von Untersuchungen ein, die zeigten, dass es bei Stressbelastungen hilfreich ist, wenn man Unterstützung von anderen erfährt. Soziale Unterstützung und wertschätzendes Zuhören machen Stress erträglicher. Aber sie verhindern ihn natürlich nicht.

Interessanter als die Ergebnisse ihrer Studie sind für mich jedoch die Überlegungen von Matthews zu weiteren möglichen Einflüssen auf das Belastungserleben nach traumatischen Erlebnissen in der psychiatrischen Arbeit. Sie berichtet beispielsweise von der Aufsummierung vieler kleiner Traumata. Damit beschreibt sie das Problem, wenn viele im Einzelfall gar nicht so traumatisierende Ereignisse sich addieren. Manchmal haben psychiatrisch Pflegende nämlich gar keine Möglichkeit sich von Belastungen zu erholen. Für Matthews besteht in solchen Situationen die Gefahr, dass sich ein Phänomen chronischer Traumatisierung herausbildet. Viel kleine Stresserlebnisse tragen dann zu einer relativ hohen Belastung bei.

Die Gefahr einer chronischen Traumatisierung entsteht in psychiatrischen Einrichtungen vor allem aus zwei Gründen:

  • Es gibt Pflegekräfte, die bereits mit der Erwartung in den Beruf gehen, dass sie in ihrem Job Gewalt und andere traumatische Situation erleben werden. Die Mitarbeiter haben dann oft den Anspruch an sich, mit solchen Belastungssituationen zurecht kommen zu müssen. Problematisch wird dies vor allem, wenn sie selbst befürchten, dem Stress nicht mehr gewachsen zu sein.
  • Der zweite, für mich weitaus problematischer Grund, ist die mangelnde Beachtung durch die Einrichtung. Wenn die aggressiven und traumatisierenden Situationen von Vorgesetzten nicht ernst genommen oder gar verharmlost werden, dann bleiben die Mitarbeiter mit ihrem Stress im Regen stehen. Und dies ist, meiner Erfahrung nach, gar nicht so selten. Immer wieder berichten mir Teilnehmer in Trainings und Supervisionen von Vorgesetzten, die ihnen bei Problemen mit herausfordernden Patienten oder Bewohnern raten, doch die Arbeitsstelle zu wechseln. Es gehöre eben zur Arbeit dazu, dass diese manchmal eben auch stressig sei.

Die mangelnde Unterstützung von Vorgesetzten oder Kollegen nach traumatisierenden Arbeitserfahrungen erhöht jedoch die Gefahr einer erheblichen Belastung mit allen Folgewirkungen, wie Angst, somatischen Beschwerden, erhöhtem Krankenstand oder gar Gedanken den Job zu wechseln.

So einfach kann man es sich also nicht machen. Für den Umgang mit Aggression, Gewalt und Suzidalität in psychiatrischen und psychosozialen Einrichtungen sind meiner Meinung nach zwei Dinge notwendig um die Mitarbeiter vor Traumatisierungen zu schützen: die Einrichtungen müssen das Problem ernst nehmen und die Vorgesetzten und Kollegen müssen den Betroffenen wertschätzend zuhören.

Aggression und Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen ist niemals ein individuelles Problem. Es ist immer ein Problem der ganzen Einrichtung. Es muss daher auch gemeinsam angegangen werden.

Quelle

Matthews, L. R. (1998). Effect of Staff Debriefing on Posttraumatic Stress Symptoms After Assaults by Community Housing Residents. Psychiatr Serv, 49(2), 207–212.